Mein emotionalster Moment als Coach

Der-Keine-Ahnung-Mann

Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Blogparade von Julia Georgi mit dem Thema: „Mein emotionalster Moment als Coach oder Therapeut.“ Ich finde das eine wunderbare Anregung darüber nachzudenken, welche Situationen mich immer wieder packen und mitreißen und mein Herz berühren.

Natürlich gehören dazu die Momente, in denen ein von mir begleiteter Mensch aus sich herauskommt, über seinen Schatten springt und jauchzt, dass er wieder einen Schritt weiter Richtung Freiheit gehen konnte.

Davon gibt es viele Momente – Gott sein dank, denn sonst könnte ich meine Arbeit als Coach in die Tonne treten.

Ich möchte aber viel lieber über eine Situation schreiben, die mich sehr berührt hat – und wo genau das Gegenteil passiert ist.

Zur Blogparade von Julia Georgi

Maik

Eines Tages rief mich ein junger Mann an (vielleicht Ende Dreißig und ich nenne ihn hier Maik), dessen Mutter dem Vater ständig Eifersuchtsszenen machte. Er rief also nicht wegen seiner Partnerin an (wie ich es oft erlebe), sondern wegen seiner Mutter bzw. für die Eltern.

Die Eifersucht der Mutter

Seine Mutter sei – wie er im ZoomMeeting sagt – krankhaft eifersüchtig. Er beschreibt viele Situationen sehr genau, bei denen er mit seinen Eltern unterwegs gewesen ist. Es sind Momente im Restaurant, wo der Vater – absichtlich oder unabsichtlich – einer Frau hinterherschaut. Und die Mutter dreht am Rad.

Es sind Szenen vor dem Fernsehen, wo der Vater durch die Programme zappt und bei einem Programm verweilt, bei dem eine (in den Augen der Mutter) attraktive Frau moderiert.

Es sind Szenen, in denen die Mutter ins Arbeitszimmer des Vaters kommt und ihm unterstellt, dass er ein Browserfenster in dem Moment geschlossen hat, in dem sie zur Tür reinkam. Mit Inhalten, die sie nicht sehen solle.

Maik kann mir jedes Detail der Szenen erzählen. Selbst die Gefühle und Gedanken seiner Eltern scheint er bestens zu kennen. Er beschreibt die Wut seines Vaters, wenn der sich wehrt. Dessen Traurigkeit. Er kann die Angst seiner Mutter nachvollziehen usw.

Und er wünscht sich nichts mehr als eine familiäre Situation, in der sich die Eltern – zumindest in seiner Gegenwart – nicht verkeilen.

Vordergründig geht es ihm um die Mutter und auch um den gepeinigten Vater. Aber letzten Endes geht es ihm vor allem um sein eigenes Wohl. Er hält diese Konflikte nur schwer aus, wenn er mit seinen Eltern zusammen ist.

5plus1 schritte aus der Beziehungskrise

Beziehungskrise überwinden

In der PDF „5 + 1 Schritte aus Deiner Beziehungskrise“ lernst Du die Schritte kennen, um Deine Beziehungskrise zu überwinden und wieder

"Keine Ahnung"

Und so stelle ich ihm Fragen, was die Eifersucht seiner Mutter mit ihm mache.

„Wenn du von der Eifersucht deiner Mutter erzählst: Welche Gefühle tauchen auf?“

Er zuckt mit den Schultern: „Keine Ahnung!“

„Wut oder Trauer? Oder … ?“

„Ne, keine Ahnung!“ Lange Pause. „Vielleicht Frust? Vielleicht!“

„Auf einer Skala von 1 bis 10 – also von „Kein Frust“ bis „Mega-Frust“: Wo befindet sich dein Frust?“ frage ich.

„Mmh, weiß nicht! Vielleicht fünf. Oder acht? Keine Ahnung. Drei?“

„Du kannst dich nicht genau festlegen?“

„Keine Ahnung. Nein, kann ich nicht!“

„Mal angenommen, du hättest Gefühle und Empfindungen in dieser Situation: Wo würdest du die in deinem Körper spüren?“

„Wo soll ich die denn spüren?!“

„Vielleicht in der Brust? Vielleicht im Bauch?“ schlage ich vor.

„Ne, nix. Es geht ja um die Eifersucht meiner Mutter. Was hat das mit mir zu tun?“

Ich bemerkte, wie ich mit jeder Antwort von Maik trauriger wurde. Er schien jede Verbindung zu sich und seinem Körper verloren zu haben.

Ich fragte: „Was denkst du über die Eifersucht deiner Mutter?!“

„Ja … äh, weiß nicht! Was soll ich denken?“

„Du könntest denken: Sie macht aus einer Mücke einen Elefanten. Du könntest denken: Drama-Queen. Du könntest denken, dass sie deinen Vater völlig zu unrecht Szenen macht. Du könntest denken, das Ganze kotzt mich an. Und und und …“

„Keine Ahnung, was ich denke.“

Mein Herz wurde immer enger. Mit jeder Antwort verstärkte sich meine Beklemmung. Ich merkte, wie meine Augen allmählich feucht wurden und ich gar nicht mehr richtig reden konnte.

Mir saß ein Mensch gegenüber, der null Ahnung von seinem Innenleben hatte. Der zwar an einer äußeren Situation litt, aber überhaupt keinen Zugang zu sich selbst hatte. Es war ein völlig unreflektiertes Leiden.

Er wusste nicht, welche Gefühle in seinem Leiden steckten, was er dabei empfand, wenn er an seine Eltern und ihre Eifersuchtsszenen dachte. Wo in seinem Körper irgendetwas passierte. Nichts. Alles war „Keine Ahnung.“

Der Blick in meine Vergangenheit

Ich erlebte einen jungen Mann, den ich in einem Vogelkäfig sitzen sah – mutterseelenallein. Seine Eltern konnten ihm überhaupt keine liebevolle Aufmerksamkeit schenken, weil sie sich wegen der Eifersucht der Mutter ständig in den Haaren hatten.

Ich glaubte, meinen Blick auf ein Gefängnis zu werfen, in dem ein Mensch saß, der allein und sehr einsam war.

Ob er wirklich einsam war, kann ich nicht sagen. Und ich habe es auch nicht gewagt anzusprechen, was ich glaubte zu sehen.

Wie auch immer. Für ihn kam es nicht in Frage, dass nicht die Mutter zum Coachen kam, sondern er sich coachen ließ.

Mich aber machte es traurig einem Menschen begegnet zu sein, der überhaupt keine Ahnung von sich selbst hatte. Dem jeder Zugang zu seinen Gefühlen und Gedanken fehlte, und für den es in Ordnung war, wenn alles so bleiben würde wie es war. Wie er war.

Diese letzten Sekunden unseres Gesprächs, als mich völliges Unverständnis und Leere anschauten, war einer meiner emotionalsten Momente in meiner Coaching-Laufbahn. Es trieb mir das Wasser in die Augen.

Und es war auch ein Blick in meine Vergangenheit, als ich noch ein junger Mann war und auch keinen Zugang zu meinen Gefühlen und Gedanken hatte. Es hat mich vielleicht auch bewegt, weil ich beide Seiten kenne. 

Und ich will nie wieder in diese „Keine-Ahnung-Zeit“ zurück.