Doch heute, wenn die gemeinsame Zeit immer seltener wird und immer sachlicher verläuft, wenn die Begegnungen immer herzloser werden, die Enttäuschungen über Kleinigkeiten immer größer werden und die Enttäuschungen schon vorprogrammiert sind, wenn äußerlich noch nichts passiert ist und das Gedankenkarussell aber Fahrt aufgenommen hat – dann wird alles, wirklich alles unendlich schwer, als würdest du einen schweren triefnassen Lodenmantel tragen.
Es wäre zu schön, wenn deine Partner spontan auf dich zukommen und dich umarmen würde. Wenn er deine Nähe suchte und du Nähe zurückgeben könntest. Wenn ihr bei Tisch wieder einmal die Hände aufeinanderlegen und eure Augen die Geschichte eurer ersten Begegnung erzählen würde.
Wir neigen dazu, die negativen Eigenschaften und Gefühle, die wir in uns selbst haben, aber nicht wahrhaben wollen, auf andere zu projizieren. Diese unerwünschten Eigenschaften sehen wir also im Partner, dem wir heftige Vorwürfe machen – Vorwürfe, die eigentlich uns selbst gelten.
Kennst du das? Man streitet sich und im Streit wirft man sich gegenseitig dasselbe Verhalten vor. „Du Geizhals!“ sagt der eine. „Selbst!“ sagt die andere. Und beide haben auf ihre Weise recht.
Um das Beispiel zu vertiefen: Bei einer Projektion sieht der eine – nennen wir ihn Peter (der auf keinen Fall geizig sein möchte) – seinen unterdrückten Geiz bei Sandra, seiner Frau, sobald die beim Einkauf einen Preisvergleich startet.
Peter macht nie Preisvergleiche, das ist nur etwas für Geizhälse, sagt er. Er aber gönnt sich kaum etwas, geht selten einkaufen und gibt sich bescheiden: er brauche nichts. Sandra spürt den versteckten Geiz dahinter und kontert dem Vorwurf von Peter: „Du bist selbst ein Geizhals“.
Solche Projektionen, die wir Tag für Tag auf den Partner übertragen, führen unweigerlich zu Enttäuschungen in unseren Beziehungen. Manchmal haben wir das Gefühl überhaupt nicht zu kapieren, was gerade passiert.
Außerdem projizieren wir unsere eigenen Wünsche und Bedürfnisse auf den anderen, die wir uns nicht trauen uns selbst zu erfüllen. Gerade wenn wir uns mehr emotionale Nähe wünschen und wir uns nicht trauen, selbst auf den anderen zuzugehen, weil wir Angst davor haben, zurückgewiesen zu werden.
In dem Fall projizieren wir unser Bedürfnis nach mehr Nähe auf den Partner und erwarten von ihm den Mut, den wir selbst nicht aufbringen. Da wir ständig auf unseren Partner unsere Wünsche und Bedürfnisse projizieren, sind wir auch ständig vom Partner enttäuscht.
Um diese Unterscheidung zwischen Tatsachen und Bedeutung geht es bei vielen Achtsamkeits-Übungen. Stets steht die Frage im Raum: Was ist tatsächlich wahr und was denke ich in die Situation hinein?
Auf den Partner übertragen heißt es: Wer ist er wirklich, was tut er wirklich und was deute ich in ihn hinein?
Zunächst einmal ist unser Partner nur ein Mensch. Mann oder Frau. Ein Mensch, der morgens aufsteht, ins Bad geht, sich wäscht, durch die Wohnung läuft, am Tisch sitzt, frühstückt, sich den Mund abwischt und anschließend das Haus verlässt.
So übrigens sehen uns unsere Haustiere: Menschen, die durch die Wohnung laufen, am Tisch sitzen, auf der Coach liegen …
Ich nehme an, dass falls du beim Lesen an deinen Partner gedacht hast, mehr gesehen hast als nur die sachliche Seite der Aufzählung. Jeder von uns macht aus den Menschen und den Situationen um sich herum mehr als tatsächlich vorhanden ist. Selbst beim Lesen schweift unser Geist in den Alltag ab.
Bist du nicht auch immer wieder mit Gedanken woanders, während du den Artikel liest? Hast du nicht auch, während ich allgemein von Partner gesprochen haben, an deinen gedacht und an bestimmte Situationen, von denen ich nicht gesprochen habe? Es fällt uns sehr schwer, konzentriert bei der Sache zu bleiben …
Wir sehen nicht nur einen Menschen, der morgens neben uns aufsteht, sondern erleben, wie schwer unserem Partner das Aufstehen fällt, weil er wieder einmal viel zu lange wachgeblieben ist. Wir sehen keinen Menschen, der im Bad einfach vor dem Spiegel steht, sondern ärgern uns über den Lahmarsch, weil das Bad viel zu lange besetzt bleibt und wir in Zeitnot kommen. Jeden Morgen.
Jeder von uns will eine „Persönlichkeit“ darstellen. Und unsere Vorstellung von Persönlichkeit ist verbunden mit den Begriffen Verlässlichkeit, Konstanz und auch Berechenbarkeit.
Das sind wichtige Werte, für die wir Energie aufbringen sie zu erhalten. Termine, die plötzlich nicht mehr in unseren Kalender passen, nehmen wir trotzdem wahr – weil wir zugesagt hatten.
Manche Zusagen an Freunde oder Bekannte, die wir aus einer gewissen Laune heraus gegeben haben, würde wir gerne wieder zurücknehmen – aber trauen uns nicht! Weil wir verlässlich sein wollen.
Doch hat diese Vorstellung von Persönlichkeit als berechenbarer und verlässlicher Mensch den Nachteil, dass wir uns nicht trauen, uns zu verändern. Wir wollen als der wahrgenommen werden, der wir schon immer waren. Doch wie wollen wir uns dann ändern?
Und im Zusammenhang mit einem gegebenen Versprechen ist es besonders knifflig. Wir wollen uns selbst treu bleiben, aber sollen oder wollen uns auch ändern! Die Rückstellkräfte, alles beim Alten zu lassen, sind enorm.
Hinsichtlich persönlicher Weiterentwicklung sind die inneren Werte von Verlässlichkeit und Beständigkeit ein Fluch. Aus Zuverlässigkeit wird knochentrockene geistige Unbeweglichkeit.
Es geht nicht darum, einen Wert wie Verlässlichkeit aufzugeben, sondern sich zu überlegen, wo und an welcher Stelle sie sinnvoll ist.
Die Vorstellung von einer konstanten Persönlichkeit lässt sich ersetzen durch das Bild einer dynamischen Persönlichkeit. Keiner muss so bleiben, wie er gestern war.